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„Vision und Wirklichkeit der Energiewende“

Marcel Sommer

Die Energiewende ist beschlossen: Bis 2022 sollen alle Kernkraftwerke in Deutschland abgeschaltet werden. Energie nur noch aus regenerativen Quellen - das wünschen sich viele. Aber bei der Umsetzung der Energiewende ist vieles noch unklar: Was wird aus den Beschäftigten in den Kernkraftwerken? Bürgerinitiativen protestieren gegen Windkraftanlagen vor der eigenen Haustür, während viele Verbraucher unter steigenden Strompreisen leiden.

Wie wird die Energiewende zum Erfolg? Diese Frage diskutierten Vertreter aus Wirtschaft und Diakonie im Rahmen einer Podiumsdiskussion unter dem Motto „Vision und Wirklichkeit der Energiewende“ im Zentrum Gesellschaftliche Verantwortung der EKHN. Je ein Mitarbeiter des Kernkraftwerks Biblis und des Energieversorgers juwi sowie ein Vertreter des Diakonischen Werkes berichteten aus verschiedenen Perspektiven von Problemen, die im Zusammenhang mit der Energiewende auftreten.

Biblis-Mitarbeiter wünscht mehr Ehrlichkeit und Transparenz von Politik

Reinhold Gispert, Betriebsratsvorsitzender im Kernkraftwerk Biblis, berichtete von den Herausforderungen für die Mitarbeiter in den Kraftwerken durch „ständige Kehrtwenden der Politik“ bei der Energiewende. Man könne sich auf nichts verlassen, monierte Gispert: „Entscheidungen, die heute getroffen werden, können morgen schon hinfällig sein. Es fehlt an Ehrlichkeit und Transparenz.“ Seit dem Beschluss zum Atomausstieg vor gut zehn Jahren hätten sich die Kernkraftwerke auf die Abschaltung vorbereitet. Nach der Bundestagswahl 2009 entschloss sich die Regierung, die Laufzeit der Kernkraftwerke zu verlängern.

Atomkraftwerk fällt als Arbeitgeber aus

In Biblis wurden deshalb wieder neue Mitarbeiter eingestellt. Doch im Jahr 2011 kam die Kehrtwende: In Folge der Katastrophe im japanischen Kraftwerk Fukushima beschloss der Bundestag den endgültigen Atomausstieg bis 2022. Damit verlor auch das Kraftwerk Biblis seine Betriebserlaubnis, in dem neben Reinhold Gispert noch rund 700 Mitarbeiter beschäftigt sind. Wer seinen Job im Kraftwerk verliere, müsse Anstrengungen in Kauf nehmen. Mehr als 200 Mitarbeiter haben ihre Stelle in Biblis bereits verloren, einige sind in ein anderes Kraftwerk des RWE-Konzerns gewechselt. Gispert berichtete von einem seiner Kollegen, der für die Arbeit ins knapp 300 Kilometer entfernte Gundremmingen umziehen musste - seine Familie sehe dieser jetzt nur noch am Wochenende.

Windkraft ja, bitte - aber nicht bei mir daheim!

Wojciech Adam Gizewski ist Regionalleiter Hessen beim Energieversorger juwi, der sich auf erneuerbare Energien spezialisiert hat. Gizewski warb für die Energiewende vor der eigenen Haustür: Es sei teuer, sogenannte Off-Shore-Windparks im Meer zu bauen, nur damit man sie nicht sehe. Stattdessen könne man Windparks preiswerter überall in Deutschland verteilt bauen - das lehnen aber viele Verbraucher ab. „Die Leute wollen ja die Energiewende, aber nicht vor der eigenen Haustür“, klagte Gizewski. „Ich glaube, es gibt keinen Windpark in Hessen, gegen den keine Bürgerinitiative protestiert“. Als Beispiel für die erfolgreiche Umsetzung der Energiewende nannte Gizewski sogenannte Energiegenossenschaften, bei denen sich Bürger zusammenschließen und gemeinsam umweltfreundliche Energie-Anlagen für ihre Region planen und bauen.

Arme Menschen als Verlierer der Energiewende

Claus Krach vom Diakonischen Werk Groß-Gerau/Rüsselsheim berät sozial schwache Familien. Sein Eindruck: „Arme Menschen sind die Verlierer der Energiewende“. Laut Krach können arme Menschen es sich oft nicht leisten, am Strom zu sparen. Wer Arbeitslosengeld beziehe, dürfe für seine Wohnung höchstens sechs Euro Miete pro Quadratmeter zahlen. Solche Wohnungen seien nach niedrigsten Standards gebaut und damit wenig energieeffizient. Ein alleinstehender Hartz-IV-Empfänger erhalte monatlich rund dreißig Euro für Strom. Das Geld reiche da oft nicht aus: „Die Leute müssen Lebensmittel bei den Tafeln holen, um Miete und Strom zahlen zu können“, berichtete Krach.

Photovoltaikanlage auf dem Kirchendach

Im zweiten Teil des Abends waren die Besucher gefordert: Sie konnten nacheinander in kleinen Gruppen mit den Referenten diskutieren und eigene Ideen für eine erfolgreiche Energiewende sammeln. So schlug Wojciech Gizewski von juwi vor, die Evangelische Kirche könne ihre Ländereien nutzen, um dort Windenergie zu produzieren - entweder um ihren eigenen Bedarf zu decken oder den Strom an Bedürftige zu verschenken. Eine Teilnehmerin aus Reichelsheim berichtete, dass ihre Kirche neuerdings eine Photovoltaikanlage auf dem Dach besitze und damit selbst Energie erzeuge. Hubert Meisinger, Referent für Umweltfragen bei der EKHN, schlug vor, dass die Evangelische Kirche sich an Energiegenossenschaften beteiligen könne. 

Was kann jeder Einzelne tun?

Nicht nur die Kirche sei gefordert - da waren die Diskussionsteilnehmer sich einig. Jeder Einzelne kann dazu beitragen, dass die Energiewende gelingt, zum Beispiel, indem man das Auto gegen Fahrräder oder Bus und Bahn tauscht. Man könne auch die Umwelt schonen, indem man ab und zu vegetarisch esse, denn die Fleischproduktion kostet viel Energie und Wasser. Viele Teilnehmer wünschten sich eine Abkehr vom Materialismus. Es werde immer gefragt: „Rentiert sich so eine Photovoltaik-Anlage überhaupt?“ Aber da müsse man umdenken, erklärte ein Teilnehmer: „Das ist eine Gefühlssache! Wenn ich weiß, dass die Sonne mir das Wasser zum Duschen wärmt, ist mir das lieber, als wenn die Energie dafür hunderte Kilometer entfernt erzeugt wird.“

Energiewende muss beim Einzelnen anfangen

Die Energiewende bleibt für alle ein lohnenswertes Ziel, das die Gesellschaft aber vor viele Probleme stellt. Experten und Besucher waren sich einig, dass nicht nur Kirche und Politik gefordert sind. Jeder Einzelne könne mithelfen, damit die Energiewende ein Erfolg werde. Pfarrer Ralf Stroh vom Zentrum gesellschaftliche Verantwortung der EKHN zieht ein Fazit aus Sicht der Kirche: „Wir müssen uns als Gemeinschaft dem Wandel stellen und die Hoffnungen und Ängste aller Menschen anhören.“ 

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