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Sterbehilfe

Tod auf Termin

CandyBoxImages/istockphoto.com

Ein Schweizer Autor und ein niederländischer Arzt berichten in der Evangelischen Akademie über ihre Erfahrungen mit Beihilfe zum Suizid und Tötung auf Verlangen.

Von Martin Vorländer (Evangelische Sonntags-Zeitung)

In einer Sage von Ovid beherbergen Philemon und seine Frau Baucis ohne es zu wissen zwei Götter, die verkleidet zu Besuch auf Erden sind. Als Dank für die Gastfreundschaft gewähren die Olympier dem hochbetagten Ehepaar einen Wunsch: Als ihre Zeit gekommen ist, sterben sie gleichzeitig und werden in zwei Bäume verwandelt. So bleiben die beiden über den Tod hinaus vereint. 

Heute begleitet „Exit“ zwei bis drei Paare pro Jahr in den Freitod

Das sei immer das Ideal des Vaters und der Mutter gewesen, erzählt Nicola Bardola. Der Schweizer Journalist hat das Buch „Schlemm“ über den gemeinsamen assistierten Suizid seiner Eltern geschrieben. Blasenkrebs im fortgeschrittenen Stadium, so lautete die Diagnose des Vaters. Für ihn war klar: Er wollte „die letzte Phase nicht im Morphiumnebel erleben“. Für die Mutter war klar: Sie wollte nicht ohne ihren Mann weiterleben. Lange vor der Erkrankung waren beide Eltern Mitglieder bei „Exit“ geworden, der „Vereinigung für humanes Sterben“ in der Schweiz. 

Ein Ehepaar, er sterbenskrank, sie zwar mit einem chronischen Leiden, vor allem aber von dem Wunsch erfüllt, gleichzeitig mit ihrem Mann zu sterben. Das war vor 15 Jahren auch in der Schweiz „der absolute Ausnahmefall“, sagt Bardola. Heute begleite „Exit“ zwei bis drei Paare pro Jahr in den Freitod. 

Ein letztes gemeinsames Essen vor dem Todestermin

„Es geht heute Abend nicht um rechtliche oder medizinische Fragen“, hebt der evangelische Medizinethiker Kurt Schmidt hervor, der die Veranstaltung ausgerichtet hat. Man wolle von dem „inneren Erleben der Betroffenen“ erfahren. Das zum Sterben entschiedene Ehepaar hatte zwei erwachsene Söhne, beide verheiratet. Die Reaktion in der Familie war gespalten. Der eine Sohn und die Frau des anderen waren entsetzt: „Das könnt ihr nicht machen!“ Doch die Eltern blieben dabei. 

Am Abend vor dem vereinbarten Todestag isst die Familie noch einmal gemeinsam zu Hause. „Weil das Todesdatum seit längerem feststand, hatten wir Zeit, alles zu fragen, was wir von unseren Eltern wissen wollten“, erzählt Bardola. Man unterhält sich am Tisch. Die Eltern sind aufgeräumt, entspannt. Einmal geht ein Sohn in die Küche, um zu weinen. 

Söhne sehen die Eltern erst wieder, als sie tot sind

Früher als gewöhnlich wollen die Eltern zu Bett gehen. Eine letzte Umarmung. Fester als sonst. „Du machst jetzt aber nicht mehr sauber“, sagt der eine Sohn an der Tür zu seiner Mutter. „Ich mache, was ich will“, antwortet sie. Die Söhne sehen ihre Eltern erst wieder, als sie tot nebeneinander in ihrem Ehebett liegen. Die Polizei stellt fest, dass die „Tatherrschaft“ bei den Verstorbenen lag. Die Leichenbestatter kommen mit den Särgen. 

In der Schweiz ist ausschließlich die Beihilfe zum Freitod erlaubt. Anders in den Niederlanden. Hier steht assistierter Suizid ebenso wie Tötung auf Verlangen unter Strafe, es sei denn, ein Arzt führt sie nach gesetzlich geregelten Kriterien durch. „Mein erster Fall war 1977, mein letzter vor zwei Wochen“, berichtet Gerrit Kimsma, Hausarzt und Medizinethiker in Holland. 

Insgesamt habe er nicht vielen Menschen Sterbehilfe geleistet. Jeder Fall sei belastend, ein psychologischer Schock, der schlaflose Nächte bereite. „Ich kenne keinen Arzt, der als Euthanasie-Arzt bezeichnet werden kann. Niemand macht das gerne.“ In den Niederlanden verweigerten die Ärzte zwei von drei Bitten um Sterbehilfe. Sein Berufsideal sei zu heilen, „aber auch, Menschen beim Sterben zu helfen“.

Arzt hat viel von Patient gelernt

Der erste Patient, der ihn um Sterbehilfe bat, habe ihn viel gelehrt, erzählt Kimsma. Schon einige Jahre war er dessen Hausarzt gewesen. Eines Tages kam der 60-Jährige zu ihm in die Praxis. Er befürchtete, Darmkrebs zu haben. Der Verdacht bestätigte sich. Der Tumor war so aggressiv, dass nur noch Schmerzlinderung in Frage kam. 

Der Mann wollte nicht vom Tod überrascht werden. Das hatte er offen mit seiner Frau und Familie besprochen. Nun sagte er zu Kimsma: „Sie sind uns immer ein guter Hausarzt gewesen. Wenn ich Sie nun um Hilfe beim Sterben bitte, muss unser Verhältnis persönlicher werden.“ Als erstes bot er dem Arzt das „Du“ an. Es müsse einen persönlichen Bezug zwischen Arzt und Patient geben, sagt Kimsma. Das sei für ihn die unerlässliche Bedingung. Die beiden führten viele Gespräche, bevor der Arzt seinem Patienten den Becher mit tödlichen Medikamenten ans Krankenbett stellte. Henk selbst trank ihn aus und schlief sofort ein. Doch die Dosis reichte nicht. Am folgenden Tag musste der Arzt mit der Spritze nachhelfen. Dann verständigte er die Polizei. Die stellte fest, dass alles nach den Richtlinien verlaufen war.

Aktive Sterbehilfe als letztes Mittel

Die palliative Versorgung in den Niederlanden ist laut Kimsma viel besser ausgebaut als in Deutschland. Aktive Sterbehilfe sei das letzte Mittel, wenn alle anderen Möglichkeiten ausgeschöpft sind. Die Initiative dazu gehe immer vom Patienten aus, nie vom Arzt. Im Fall des Falles sähen Ärzte den assistierten Suizid als „Methode der Wahl“. 90 Prozent der Patienten jedoch bäten um „Tötung auf Verlangen“. Das heißt, sie wollen lieber vom Arzt die Giftspritze bekommen als eigenhändig die tödlichen Medikamente nehmen. 

Einen Menschen beim Sterben zu begleiten sei immer ein intensives, intimes Erlebnis. Bei der aktiven Sterbehilfe komme hinzu, dass der Patient die Entscheidung selbst getroffen habe. Der Betroffene und seine Angehörigen könnten sich auf das Sterben vorbereiten. „Das gibt die Chance, über den Tod in aller Offenheit zu sprechen“, so Kimsma. 

Druck auf hilfsbedürftige Menschen kann steigen

Es geht ums Zuhören an diesem Abend in der Evangelischen Akademie Frankfurt. So bleiben viele Fragen bewusst ausgeklammert: Wie kann eine Gesellschaft die Kriterien eingrenzen, wer mit welcher Erkrankung aktive Sterbehilfe bekommt? In den Ländern mit gesetzlich geregelter Sterbehilfe wurden die Indikationen kontinuierlich ausgeweitet. In Belgien können nicht nur unheilbar Kranke, sondern auch Menschen mit psychischen Leiden und sogar Minderjährige aktive Sterbehilfe bekommen. 

Muss sich rechtfertigen, wer trotz schwerer Krankheit weiterleben will, auch wenn er das Gesundheitssystem viel Geld kostet? In einer alternden Gesellschaft kann der Druck auf hilfe- und pflegebedürftige Menschen steigen, lieber Giftspritze oder Todestrunk zu wählen anstatt Angehörigen und Allgemeinheit zur Last zu fallen. Was bedeuten Würde und Selbstbestimmung beim Sterben? Bleibt beides nur gewahrt, wenn man den Termin seines Todes selbst wählt? Wollen wir in einer Gesellschaft leben, in der das Leben bewertet wird als gut oder schlecht, produktiv oder Last, lebenswürdig oder lebensunwürdig? 

Eine Frau sagt als Reaktion auf den Abend: „Ich kann vieles verstehen – und doch auch wieder nicht.“

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